Donnerstag, 27. Oktober 2011

Anatomisches Theater

Bernhard Meyer
29. November 1713:
Erste Sektion einer Leiche in Berlin


Erst vor wenigen Monaten inthronisiert, verfügte der 25jährige König Friedrich Wilhelm I. (1688–1740; König seit 1713) per Cabinets-Ordre mit Datum vom 26. November 1713 die Eröffnung eines Königlichen Theatrum anatomicum. Bereits drei Tage später drängelten sich an die 100 professionelle Heilkundler unterschiedlicher Couleur vom Arzt bis zum Wundarzt III. Klasse und Feldscher sowie eine handvoll interessierte Laien, um einen günstigen Platz für die erste Sektion einer menschlichen Leiche in der Residenz- und Hauptstadt des Königreiches Preußen zu ergattern. Eingeladen hatte zu dieser von der Öffentlichkeit gleichermaßen als Spektakel und Gotteslästerung empfundenen wissenschaftlich- medizinischen Lehr und Demonstrationsveranstaltung der namhafte Anatom Christian Maximilian Spener (1678–1714). ... Die Einladung für eine seiner Sektionen lautete: »Die Erkänntniß seiner selbst nach der Natur recommendiret Allen und Jeden Und ladet auf den 5. Febr. dieses 1714ten Jahres alle Liebhaber der Anatomie, insbesondere die Chirurgos und Wund-Aerzte Auf das Königliche Theatrum Anatomicum zu denen Neuen Anantomischen Demonstrationen vornehmlich und den Musceln/Blut-Gefässen und Nerven hiermit ein ... «
     Neben Räumlichkeiten und Finanzen klärte die königliche Entscheidung vor allem die Bereitstellung von Leichen. Da die gottesfürchtigen Untertanen, ganz so wie es ihnen der Klerus vorgab, an ein Weiterleben nach dem Tode glaubten, wollte jedermann seinen Körper unversehrt für die himmlische Auferstehung erhalten. Anatomische Eingriffe jedweder Art galten als unchristliche Akte. So blieb dem König nur die Möglichkeit, die von staatswegen vom Henker zu Tode Gebrachten der Anatomie zu übereignen. Da aber auch sie ihre Seele für die Wiederauferstehung erhalten wollten, kam es nicht selten vor, daß ihr letzter Wunsch darin bestand, nicht auf den Sektionstisch zu gelangen. Trotzdem bekam Spener das für eine anatomische Präparierübung Unerläßliche. ...
Der Veranstaltungsort, amphitheatralisch gestaltet, mit sechs Sitzreihen für knapp 100 Personen, war im Nordwestpavillon des Königlichen Marstalls (heute das Areal von Staats- und Universitätsbibliothek) in der Dorotheen-, Ecke Charlottenstraße untergebracht. 1691 von Arnold Nering (1659–1695) erbaut, wurde das zweigeschossige Gebäude bereits für die Akademie der Künste, die Societät und ab 1705 mit dem nachträglich errichteten 26 Meter hohen Turm als Observatorium genutzt. Über dem Eingang zum Theatrum prangte ein kunstvoll geformtes Relief mit dem Text: »Friedrich Wilhelm, König von Preußen und Kurfürst von Brandenburg, hat dieses anatomische Theater im Jahre 1713 gegründet ... und zur fortdauernden Ausübung der Kunst mit einem Überfluß an Leichnamen versehen, zum Heil der Armee und des Volkes, zum Nutzen der Bürger und Fremden.« ...
Spener selbst konnte nur den Grundstein legen, denn schon fünf Monate nach der Eröffnung starb der 36jährige am 5. Mai 1714. Es gilt als ziemlich sicher, daß er sich bei einer der Sektionen infizierte. In der »Berliner geschriebenen Zeitung« vom 12. Mai hieß es: »Der unlängst verstorbene Hof- und Garnisons-Medicus Spener hat bey seiner Krankheit grausamlich geraset und nur von den Körpern gesprochen, so er secieret, und gleichsam mit denen immer gefochten.«


Theatrum Anatomicum Caspar Bauhin 1605

Menschliches Elende

Was sind wir Menschen doch! ein Wonhauß grimmer Schmertzen?
Ein Baal des falschen Glücks / ein Irrliecht dieser Zeit /
Ein Schauplatz aller Angst / unnd Widerwertigkeit /
Ein bald verschmelzter Schnee / und abgebrante Kertzen /

Diß Leben fleucht darvon wie ein Geschwätz und Schertzen.
Die vor uns abgelegt des schwachen Leibes kleid /
Und in das Todten Buch der grossen Sterbligkeit
Längst eingeschrieben sind; find uns auß Sinn' und Hertzen:

Gleich wie ein eitel Traum leicht auß der acht hinfält /
Und wie ein Strom verfleust / den keine Macht auffhelt;
So muß auch unser Nahm / Lob / Ehr und Ruhm verschwinden.

Was itzund Athem holt; fält unversehns dahin;
Was nach uns kompt / wird auch der Todt ins Grab hinzihn /
So werden wir verjagt gleich wie ein Rauch von Winden.

Andreas Gryphius 1616 - 1664

Anonymus "Theatrum Anatomicum Leidense" frühes 17. Jahrhundert

Menschliches Elende

Was sind wir Menschen doch? ein Wohnhaus grimmer Schmerzen /
   Ein Ball des falschen Glücks / ein Irrlicht dieser Zeit /
   Ein Schauplatz herber Angst / besetzt mit scharfem Leid /
Ein bald verschmelzter Schnee / und abgebrannte Kerzen /

Dies Leben fleucht davon wie ein Geschwätz und Scherzen.
   Die vor uns abgelegt des schwachen Leibes Kleid /
   Und in das Toten-Buch der großen Sterblichkeit
Längst eingeschrieben sind / sind uns aus Sinn und Herzen.

   Gleich wie ein eitel Traum leicht aus der Acht hinfällt /
   Und wie ein Strom verscheust / den keine Macht aufhält:
So muß auch unser Nam' / Lob / Ehr' und Ruhm verschwinden /

   Was itzund Atem holt / muß mit der Luft entfliehn
   Was nach uns kommen wird / wird uns ins Grab nachziehn /
Was sag ich? wir vergehn wie Rauch von starken Winden.

 Theatrum Anatomicum Caspar Bauhin 1605

1 Kommentar:

  1. Sinnvoll. Notwendig. Für das Leben. Trotzdem. Wann hört das physische Menschsein wirklich auf. Im Verfaulen. Was ist mit Kühlhauskörpern. Was ist mit den Knochen. Den Zähnen, die zu einem Gesicht gehört haben. Die wiedererkannt werden. Für wen gilt Respekt. Wie lange. Sind abgetrennte Teile nebeneinander ein Mensch. Ein gewesener Mensch. Oder Material. Warum darf man niemanden begraben, wo man will. Oder behalten. Warum dürfen wir an Mumien hantieren. Oder ausgebuddelte alte Knochen zu Skeletten ordnen und ausstellen. Ein Mensch, der etwas Stoffliches von einem Menschen behalten möchte, darf es nicht.Von wann bis wann gilt Totenruhe. Hat das Stoffliche eines gewesenen Menschen nicht doch auch einen immateriellen Aspekt. Ist da etwas, was nicht da ist. Und doch da ist. Man muss es wegschmeißen oder verbrennnen. Weil es Gesetze gibt, denen Gefühle sich anzupassen haben.

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