Freitag, 11. Mai 2012

Spiegel - Ruth Orkin und Rainer Maria Rilke



(III) Spiegel: noch nie hat man wissend beschrieben...

Spiegel: noch nie hat man wissend beschrieben,
was ihr in euerem Wesen seid.
Ihr, wie mit lauter Löchern von Sieben
erfüllten Zwischenräume der Zeit.

Ihr, noch des leeren Saales Verschwender - ,
wenn es dämmert, wie Wälder weit ...
Und der Lüster geht wie ein Sechzehn-Ender
durch eure Unbetretbarkeit.

Manchmal seid ihr voll Malerei.
Einige scheinen in euch gegangen - ,
andere schicktet ihr scheu vorbei.

Aber die Schönste wird bleiben - , bis
drüben in ihre enthaltenen Wangen
eindrang der klare gelöste Narziß.

Rainer Maria Rilke, Gedichte an Orpheus

©Estate of Ruth Orkin

Dame vor dem Spiegel

Wie in einem Schlaftrunk Spezerein,
löst sie leise in dem flüssigklaren
Spiegel ihr ermüdetes Gebaren;
und sie tut ihr Lächeln ganz hinein.


Und sie wartet, daß die Flüssigkeit
davon steigt; dann gießt sie ihre Haare
in den Spiegel und, die wunderbare
Schulter hebend aus dem Abendkleid,


trinkt sie still aus ihrem Bild. Sie trinkt,
was ein Liebender im Taumel tränke,
prüfend, voller Mißtraun; und sie winkt


erst der Zofe, wenn sie auf dem Grunde
ihres Spiegels Lichter findet, Schränke
und das Trübe einer späten Stunde.


Rainer Maria Rilke, Neue Gedichte

1 Kommentar:

  1. wie scheinbar, schlängelt sich das wort in dieser spiegelung. ein jedes wohnt im andern fort, hält sich in uns fest und spaltet unsere erfahrung immer wieder neu. was dazwischen ist, und zwischen unseren atemzügen, kann man beschreiben, wenn man die zertretenen Pfade nicht immer nur als wege sieht oder auf ihnen auf Händen geht ;)

    liebe grüße
    jens

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