Freitag, 8. Februar 2013

Bertolt Eugen, 15, schreibt sein erstes Stück.


Januar 1914, unter dem Pseudonym Bertolt Eugen, veröffentlicht ein fünfzehnjähriger Augsburger Gymnasiast einen Einakter in der von ihm gegründeten Schülerzeitung "Die Ernte", deren Herausgeber und hauptsächlicher Textlieferant er ebenfalls selber war.
Heute, fast 100 Jahre später, wurde das Werk im Rahmen des Brecht-Festivals in einer Kirche uraufgeführt. 

Der Text liegt schon lang gedruckt vor, niemand hat ihn bisher gespielt. Warum? - wurde ich von einer erstaunlichen Anzahl Journalisten gefragt. Keine Ahnung! Vielleicht, weil das Stück fünf Seiten lang ist, entstanden als Schreibübung eines hochbegabten Teenagers? Es ist ein kleiner, feiner Text, die Sprache ist kräftig und das zentrale Problem unlösbar, was der dramatischen Situation Kraft gibt. Aber würde der Name des Dichters nicht darüberstehen...?
Was mancher da so hineininterpretiert! Die gesamte, zum Zeitpunkt der Entstehung, noch nicht gelebte Biographe des Dichters wird dem zarten Werk übergestülpt. Die zukünftige Vergangenheit färbt jedes unschuldige Wort. 
In einer Kirche Theater zu spielen ist großartig! Hier war es die Augsburger Barfüßerkirche, Tauf- und Konfirmationskirche des oben genannten Jünglings. Um die 600 Jahre alt. Im letzten Weltkrieg ist ihr durch Bombeneinwirkung das Kirchenschiff abhanden gekommen, danach stand da nur noch der Ostchor, nicht sehr groß, aber wunderbar hoch. Der ehemalige drübergepappte barocke Zierrat war weg, nur noch das Altargitter und ein paar gigantische kitschige Gemälde erinnern daran. Keine schicke Kirche, eher wie ein lang bewohntes Zimmer, mit Erinnerungsstücken aus vielen Zeiten, wohnlich.
Die Akustik ist hart, Kammerspiel geht nicht, eher Holzschnitt, wie Freilichttheater. Groß, genau und laut. Das tut dem Stück aber gut, es entspricht ihm.
Ein Vergnügen!




Barfüßer nannten die Brüder sich, weil sie keine Schuhe an den Füßen trugen, als Zeichen ihrer Armut, die in ihrem Vertrauen auf Gott wurzelte. In der Augsburger Innenstadt steht die Barfüßerkirche, das erste Gotteshaus des Franziskaner. In der Reformation wurde die Kirche zum Zentrum der Zwinglianer, seit 1535 ist sie lutherisch. 

 
 Hi, ich bin das barfüßige Christkind!
1632 von Georg Petel geschaffen


Die Bibel


Drama in einem Akt von Bertold Eugen


Personen
Der Großvater ◦ Der Vater, Bürgermeister ◦ Das Mädchen ◦ Der Bruder

Das Drama spielt in den Niederlanden, in einer von den Katholiken belagerten protestantischen Stadt.


Erste Szene

Eine behagliche Wohnstube eines Hauses am Markt. Im Erker Spiegelfenster mit Blumensimsen. Am Tisch der Großvater lesend, im Erker das Mädchen. Ab und zu von ferne wirres Tosen.

GROSSVATER laut und feierlich lesend: Und um die neunte Stunde rief Jesus laut und sprach: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ und nach einer Weile spotteten die um ihn standen und sagten: Anderen hat er geholfen, aber sich selbst kann er nicht helfen. Steig herab vom Kreuz und wir wollen dir glauben. Da schrie Jesus abermals: „Es ist vollbracht“ und neigte das Haupt und verschied.

MÄDCHEN Es ist so seltsam schwül hier, in den Straßen ist kein Mensch. Ich habe Angst.

GROSSVATER Die Bürger sind auf den Mauern, Kind. Darum ist es so menschenleer. Du brauchst keine Angst zu haben.

MÄDCHEN Ich glaube, der Sturm beginnt bald. Aber ich habe nicht deswegen Angst.

GROSSVATER antwortet nicht und blättert in der Bibel.

MÄDCHEN Ich weiß nicht, woher es kommt. Ich habe erst seit heute morgen Angst. Erst seit Vater und Bruder fortgingen. Da sah mich der Bruder so seltsam an. Er fragte: Heute wird sich’s zeigen. Der Sturm wird schwer auszuhalten sein. Wir opfern uns gerne. Er betonte das „Wir“. Diese Rede ist nicht wichtig. Aber sie geht mir immer im Sinn um. Und dann bekomme ich immer plötzlich Angst. Ich weiß nicht warum.

GROSSVATER Hirngespinste! Sie sind schon oft fortgegangen. Sie sind immer wieder heimgekehrt. Ich habe nie bei dir Furcht gemerkt.

MÄDCHEN starr: Ich weiß, dass sie oft gingen. Und dass ich mich nie sorgte.

GROSSVATER Heute ist ein schwerer Tag. Der Feind will stürmen. Wir sind hier und können nicht helfen. Wir können nur Gott um Hilfe bitten. Lasst uns beten! Wir wollen Trost suchen in der Bibel.

MÄDCHEN zum Fenster hinaussehend: Es ist schwül heut.

Schweigen.

GROSSVATER Wenn aber solche Zeichen geschehen, müsst ihr auf die Berge fliehen! Seid standhaft dann und treu. Denn es hängt davon viel ab!

MÄDCHEN mit dem Blick in der Ferne: Erzähle mir anderes, Großvater! Deine Bibel ist kalt. Sie redet von Menschen, die stärker waren als wir.

GROSSVATER Mädchen, versündige dich nicht! . . . Liest: Ich aber sage euch, dienet euerem Nächsten! Brecht dem Hungrigen das Brot und habt Mitleid mit dem, der da darbet. Blättert.

MÄDCHEN seltsam: Erzähle etwas anderes! Deine Bibel ist kalt. Erzähle etwas von Not und Tod, aber von der Hilfe Gottes. Erzähle etwas von dem guten, rettenden Gotte. Deine Bibel kennt nur den Strafenden!

GROSSVATER Wer Vater oder Mutter mehr liebet denn mich, der ist meiner nicht wert. – Dieses Buch ist so schön. Weil es stark ist. Die Menschen sollten es mehr lesen.

MÄDCHEN lauscht: Ich höre Tritte auf der Stiege. Es sind schwere, müde Tritte. Der so geht, muss ein alter, elender Mann sein. Oder er muss schwer zu tragen haben. Ich will sehen . . . Geht zur Tür.

GROSSVATER leis: Ich glaube, ich kenne den, der so müde Schritte hat.


Zweite Szene


Der Bürgermeister mit seinem Sohn tritt ein. Ein großer, stattlicher Mann. Der Bruder umarmt das Mädchen stürmisch.

BRUDER gespielt lustig: Mädchen! Das ist ein feiner Tag! Es regnet Granaten. Ernst: Aber wir haben alle unsere Pflicht getan.

Schweigen.

MÄDCHEN Wie steht es draußen, Vater? Ihr seid so still und ernst. Es muss nicht gut stehen.

VATER langsam, starr das Mädchen ansehen: Es steht schlecht, Mädchen. - -
Gequält: Wir wussten es schon am Morgen, dass es nicht mehr lang dauern konnte.

GROSSVATER ruhig: Wir wussten es auch.

VATER Man hat euch nichts davon gesagt. Wir wollten euch nicht aufregen. Aber nun muss es gesagt werden. – Erzähle du, mein Sohn!

BRUDER zögernd: Es ist nicht viel zu erzählen. – Die Werke sind zerschossen, durchlöchert wie ein Sieb. Wir haben gearbeitet Tag und Nacht, sie im Stande zu halten. Es war umsonst. – Der Hunger ist in der Stadt. Ihr wisst nichts davon. Aber im untern Stadtviertel sterben die Leute.

MÄDCHEN Man muss ihnen zu essen geben. O Gott! Wir haben im Überfluss und diese Leute sterben.

VATER Man kann nicht helfen. Es sind zuviel. Du würdest dich nur selbst zugrund richten.

BRUDER . . . Der Hunger ist in der Stadt. Die Leute sind matt. Sie können sich kaum auf den Füßen halten. So matt sind sie. Und heut, jetzt dann, um 3 Uhr, beginnt der große Sturm. Der Katholik stürmt. Wir werden uns nicht halten können.

GROSSVATER sich aufrichtend: Man muss sich halten! Sieg oder Tod! Alle Leute sollen auf die Mauern. Sie sollen kämpfen und sterben für ihren Glauben. Bekennet, spricht der Herr.

BRUDER höhnisch: Bekennet! Haha! Weißt du, Großvater, ist leicht bekennen, wenn man satt ist. Und in Friedenszeiten, in der guten Stube. – An Sieg ist nicht zu denken! Der Katholik hat im Land gesiegt. Wir, die letzte protestantische Stadt, harren noch aus. – Der Feind wird in die Stadt eindringen. Was dann passiert, könnt ihr euch denken. Das Schicksal anderer Städte lehrt es uns. Sie werden die Weiber und Kinder . . . Nun . . . was reden . . . Vater, ich kann nicht weiter . . .

MÄDCHEN Was ist’s? Was schaut ihr mich so schrecklich an?

Schweigen

VATER müde: Vorhin kam ein Bote. Er kam aus dem Lager des Feindes . . . o Gott.

MÄDCHEN geht auf ihn zu: Sprecht doch, Vater! Wir wollen alles hören!

VATER weicht zurück vor der Umarmung, murmelt: Nicht jetzt! . . .
Dann fährt er mit müder, schleppender, gleichgültiger Art fort: Ach Gott, es muss doch gesagt werden! Der Bote sagte . . . der Katholik verzeihe der Stadt . . . wenn die Inwohner katholisch würden und . . .

GROSSVATER schreiend: Nichts da! Nicht fort! Wir werden kämpfen bis zum Tod!

VATER Und wenn . . . ein Mädchen sich opfere . . . dem feindlichen Feldherr . . . eine Nacht . . . Blöde: Du, Mädchen!

Schweigen. Dann schreit das Mädchen wild und will sich auf den Vater stürzen. Sie bricht in Weinkrämpfe aus . . .

MÄDCHEN Ich! . . . Ich soll mich opfern . . . o Gott . . . o Gott!

VATER weicht zurück, dumpf: Lass mich, lass mich! . . . Jetzt ist es heraus.
Wendet sich ab und verbirgt das Gesicht in der Hand.

GROSSVATER wild: Mädchen, Antwort!

MÄDCHEN irr: Was ist, was ist . . . o . . . mein Kopf . . . Wild herausschreiend: Ich tue es nicht! Ich tue es nicht! Ich kann’s nicht tun.

Wirft sich schluchzend vor dem Großvater auf die Knie.

VATER weinend: Ich wusste es.

BRUDER scharf, das Mädchen an der Schulter reißend: Mädchen! Du musst! Ein Volk schreit nach dem Opfer!

GROSSVATER Geh weg! Versucher!

BRUDER im Hohn der Verzweiflung: Versucher. Hahaha! Jetzt fällt die Höflichkeit! Wenn’s ans Leben geht! – Mädchen, ich sage dir, du musst!
Leise, fast flehend: Schwester! Du rettest ein Volk! Ein Volk! Du rettest deine Verwandten. Deinen Vater! Deinen Großvater! Ihr werdet mir folgen! In den Keller, auf die Straße.

GROSSVATER Sie rettet mich nicht! Ich bleibe hier!

BRUDER wild: Gott! Hörst du denn nicht? Mädchen! Großvater, rede ihr zu, sage ihr, dass sie muss!

GROSSVATER Nein! Sie muss nicht! Hört ihr, sie muss nicht, eine Seele ist mehr wert als 1000 Körper!

BRUDER wild: Schweig, du Narr! Ja, du bist ein Narr! Oder du bist grausam! Grausamer denn Ahab! Draußen schreien die Menschen und du hörst sie nicht, draußen lodern die Flammen und du siehst sie nicht, Großvater, wenn der Tag des Gerichtes kommt, wie wirst du dastehen?

GROSSVATER eisern: Gerecht! Ich sage dir: gerecht!

BRUDER auflachend: Gerecht! Ja verharr nur in deinem Wahn! In deiner starren Gerechtigkeit! Haha!
Plötzlich abbrechend, da die Uhr zweimal schlägt. Schon ½ auf 3 Uhr! Mädchen! Komm! 3 Uhr ist die letzte Frist, dann beginnt der Sturm! Hab Erbarmen, Mädchen, mit den Tausenden!

MÄDCHEN Vater, willst du auch, dass ich das tue?

VATER schweigt.

BRUDER Natürlich, will er es. Vater, sag, dass du es willst . . . Sicher, er will es! Komm Mädchen!

MÄDCHEN Ich komme!

GROSSVATER sie haltend: Bleib! Kennst du das Wort Gottes nicht! „Wer mich verleugnet vor den Menschen, den will auch ich verleugnen vor dem himmlischen Vater!“ Mädchen, Mädchen! Ist deine Seele nicht mehr wert als die Körper von Tausenden? Wahrlich, sagt der Herr, wer Vater oder Mutter mehr lieb hat als mich, ist meiner nicht wert! – Du musst fest bleiben, denk an deine Seele.

BRUDER Schweig, du alter Narr! Mit deiner Bibel, die so kalt und gerecht ist, wie du! Folge deinem Herzen, Mädchen! Ist es nicht schön, für Tausende zu leiden? Komm . . . schnell!

MÄDCHEN Nein . . . nein . . . Geh weg . . . Großvater hat recht. Geh weg . . .

BRUDER rasend, sie schüttelnd: Du musst, Mädchen, du musst!

VATER Lass sie! Zwing sie nicht!

BRUDER Du Schwächling! Sie muss!

VATER Junge! Lass ab von ihr! Ich befehl es! Es ist genug. Du gehst mit.

Er zieht ihn mit zur Tür.

BRUDER Sorgt nur für euch selbst! Hahaha!

Sie gehen. Der Vater kommt zurück. Er sagt gedrückt.

VATER So geht wenigstens mit und rettet euch . . . Eine Granate kann einschlagen . . . Das Haus wird brennen . . . Kommt!

GROSSVATER ehern: Schweig! Wir bleiben hier. Wir wollen nicht abschwören, wie ihr! Wir gehen unter, wenn’s not – für unsern Glauben. – Hart: Du hast uns nichts mehr zu sagen. Du hast deiner Tochter Seele verschachern wollen. Hinaus mit dir! Du bist nicht wert, deine Tochter zu sehen.

VATER fährt zusammen, dumpf und bebend: Ich bin’s nicht wert . . . Ihr habt recht . . . Ich bin’s nicht wert . . . Wankt hinaus.


Dritte Szene


Dumpfer Kanonendonner in der Ferne. Im Zimmer ist’s still. Das Mädchen steht wieder am Erker. Großvater steht neben ihr und fährt ihr übers Haar mit der weißen Hand.


 

GROSSVATER Mädchen, wein nicht. Es musste sein.

MÄDCHEN Du warst hart, Großvater!

GROSSVATER Ich musste hart sein. Sie wollten deine Seele verkaufen.

MÄDCHEN träumend: Vielleicht wollte es Vater nicht . . . Vater war immer so gut zu mir. Als ich noch klein war, nahm er mich immer auf den Arm und sagte: Du bist meine kleine, süße Maid. Ich glaube, er hatte mich da lieber als den Bruder. Und dann starb Mutter. Ich weiß es noch wie heut. Sie lag da in ihrem schwarzen Kleid im düsteren Sarg. Drei hohe, weiße Totenkerzen brannten die Nacht. Wir saßen die ganze Nacht, wir Kinder, und weinten. Am Morgen kam Vater. Da nahm er mich auf den Arm und küsste mich. Nun müssen wir zusammenhalten, sagte er. Du bist mir mehr wert als hundert Freunde. Und er küsste die Tote. – Es war wie ein Schwur. – -Ich weiß nicht, warum mir diese düstere Nacht heute einfällt . . .

In diesem Augenblick schlägt an den Fenstern das Feuer empor, es zuckt grüngolden auf. Der Himmel dahinter ist blutrot. Der Großvater – setzt sich in seinen Stuhl.

MÄDCHEN vom Fenster her: Das Feuer wächst. Es fasst den Turm dort drüben. Fast die ganze Stadt brennt schon. Die Stadtmauern ragen schwarz in den roten Himmel. Der Feind beginnt den Sturm. Ich sehe seine dunklen, blitzenden Kolonnen sich heranwälzen. O Gott! Sei gnädig unserer armen Stadt!

GROSSVATER Lass sie stürmen, die Feinde, Gott ist mit uns!

Das Donnern der Kanonen wird stärker. Am Fenster tanzen die Feuerfunken.

GROSSVATER Sei ruhig, mein Kind. Gott ist bei uns.

Die Glocken beginnen weit ausholend zu dröhnen.

GROSSVATER ekstatisch: Horch, Kind, die Glocken. Sturmglocken! Gott ist nahe! Das sind Gottes Stimmen! Sie rufen zum Kampf!

MÄDCHEN irr: Die Glocken . . . Gottesstimmen . . .

Schreiend: Herr Gott! Gottesstimmen!


Starr und stumm schreitet sie, am Großvater vorbei, hinaus. Der Großvater sieht ihr starr nach. – Das Donnern wird stärker und schwillt rollend auf. Ein betäubender Krach, ganz dicht am Haus. Rauch und Feuer schießen zum Fenster herein. Das Haus brennt. Dann wird plötzlich alles ganz still . . .

GROSSVATER laut und hallend: Herr, bleibe bei uns: Denn es will Abend werden und der Tag hat sich geneiget.

Der Vorhang rauscht über dem brennenden Gemach zusammen.

FINIS




1 Kommentar:

  1. Und so sehen das andere Leute:

    http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buehne-und-konzert/brecht-urauffuehrung-in-augsburg-kleine-weihrauchmesse-in-b-b-dur-12058141.html

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