Donnerstag, 3. April 2014

Lear - Theater auf dem Theater im Theater


DIE KREIDEFELSEN VON DOVER 
ODER ES IST NICHT WAS ES NICHT IST
ODER AUCH DAMIT VERBRINGE ICH MEINE TAGE

König Lear 
Vierter Akt, Sechste Szene
Gloucester und sein Sohn Edgar als "Armer Tom"

1.
Zwei Spieler auf einer leeren Bühne.
Einer ist älter, der andere jung.
Sie spielen Vater und  Sohn.

Erste Zwischenbemerkung: Der Junge ist nicht so jung wie die Figur die er spielt und der Ältere nicht so alt, wie es seine Rolle es üblicherweise verlangt.

2.
Der ältere Mann, der den Vater darstellt, behauptet, dieser ist geblendet worden, also blind, und hat erst dann begriffen, dass er zu Beginn des Stückes seinen älteren Sohn, verblendet durch die Lügen seines jüngeren Sohnes, zu Unrecht verstossen und verraten hat. Geblendet, und von einer Verblendung befreit, aber doch so blind, dass er jetzt nicht bemerkt, dass der närrische Junge, der ihn, den Blinden, führt, eben dieser "verlorene" Sohn ist.

3.
Der junge Schauspieler, der den (älteren) Sohn spielt, hat in der Rolle des Sohnes, in tiefster Enttäuschung über den Verrat des Bruders und die Bereitwilligkeit seines Vaters, dessen Lügen zu glauben, seine einstige Identität abgelegt und behauptet nun ein ver-rückter Narr zu sein.

4.
Der blinde Vater will sich töten und bittet seinen Begleiter um Geleit zu den Kreidefelsen von Dover, in der Absicht sich dort in die Tiefe und den Tod zu stürzen.

Zweite Zwischenbemerkung: Wie schon gesagt, die Bühne ist leer, und hat bis zu dieser Szene bereits als drei verschiedene herrschaftliche Residenzen und eine Heide im Sturm herhalten müssen. Sie ist flach und sehr leer.
Und jetzt!

5.
Der unerkannte Sohn, in seiner Identität als stammelnder Idiot, führt den blinden Vater - er beschreibt ihm den Weg, die Vögel, die Aussicht, die Steigung, den Abgrund  - der Zuschauer sieht, wie schon den ganzen bisherigen Abend über die leere Bühne - der blinde Vater glaubt der Beschreibung - der Zuschauer soll der Beschreibung nicht glauben, aber er soll glauben, dass der Mann, der behauptet der augenlose Vater des nicht wirklich verrückten Sohnes zu sein, ihr glaubt.

Dritte Zwischenbemerkung: Die Abwesenheit von Meeresrauschen wird in der fiktiven Wegbeschreibung durch die Höhe der Felsen und die große Entfernung des tief unten rauschenden Meeres begründet.
 
6.
Der blinde Vater stürzt sich in die vermeintliche Tiefe und fällt flach aufs Gesicht.

Vierte Zwischenbemerkung: Und jetzt!

7.
Der Sohn, nach kurzer Verunsicherung ob sein Vater nun wirklich tot sein könnte, weil vielleicht die Vorstellung des Sturzes stark genug war, sieht, dass dieser lebt und behauptet nun eine andere Person zu sein, ein Fischer oder Muschelsammler, der den vom Felsen Gestürzten zufällig am Strand findet.

8.
Der überlebt habende Blinde ist zornig, weil sein Selbstmordversuch nicht geglückt ist. Etwas später wird er, wenn er erfährt, wer ihn geführt und "gerettet" hat, an Herzbruch sterben. 

9. 
Ich liebe das. 



"Dover" 1825 Joseph Mallord William Turner

  

2 Kommentare:

  1. Aufeinandertreffen verschiedener Verrücktheiten - Weisheit, oder einfach wie im Leben.


    Es gibt ein feines Buch von Paul Watzlawick : "Wie wirklich ist die Wirklichkeit?"

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  2. Wie wundvoll das ist:Mit nichts als sich selbst und dem Anderen versehen, auf einer offenen Fläche stehend, unabhängig von Alter, Geschlecht, Ort und Tageszeit den gesamten Weltkreis erschaffen, er-leben zu können!

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