Montag, 30. Juni 2014

HAMLET 3 - Ein Rausch

    
    Hamlet, schon bloße Aussprechen des Titels flößt eine gewisse lähmende Ehrfurcht aus,
    bei mir allerdings eine von der nörgeligen Art.

    Hamlet & Faust, das waren lange Zeit für mich hauptsächlich Selbstdarstellungs-
    gelegenheiten für midlife-Krisen geschüttelte deutsche Groß- und Mittelregisseure. 
    Die Konzepte ähnelten sich trotz unterschiedlichster Ästhetik: Hamlet oder Faust, das 
    waren sie selbst, verkannt, einsam, unverstanden, weit tiefer/größer/verzweifelter
    als es ihre Umwelt begreifen und ertragen konnte. So waren die Abende meist zu lang, 
    zu gemächlich, Ophelia bzw. Gretchen erotisch dekorative Traummädchen mit nur 
    unwesentlicher Bedeutung für das Schicksal des Protagonisten, und der Blick auf ihn 
    von tiefem Einverständnis geprägt. Wenn wir für den Hamlet noch die ganz und gar 
    deutsche Romantisierung und Entpolitisierung durch August Wilhelm Schlegels 
    wunderbare Übersetzung addieren...
    Also Hamlet, vor einigen Jahren in Rostock noch die Geschichte einer ehrgeizigen, und 
    doch ziellosen Generation, die ungeduldig und ohnmächtig auf das Abtreten der Alten 
    wartet, nun auf einer riesigen grauen Treppe, bemoost und uneben, 52 Stufen, die zu 
    einem Mischmasch-Dom von harscher Schönheit führen. Und, ja, und dies in 
    viereinhalb Wochen, zerhackt von anderen Verpflichtungen der Darsteller und den 
    Unwägbarkeiten des mitteleuropäischen Sommers.



Sankt Michael im Sonnenschein

   Hybris? Ja.
   Ein Abenteuer? Ja.
   Machbar? Keine Ahnung.
   Aber. Aber ich habe eine Fassung, die schlank und hart an der Geschichte bleibt, die 
   spröde Übersetzung des Vormärzdichters Georg Herwegh und eine Gruppe Spieler von 
   geradezu unglaublicher Bereitschaft und dem nötigen fröhlichen Übermut, sich auf ein 
   so waghalsiges Unternehmen einzulassen. Es ist ein Rausch. Acht, zehn oder mehr 
   Stunden täglich, wer weiß noch, welcher Wochentag es sein mag. 
   Aber. Aber wir erzählen eine Geschichte über die Nähe von persönlichster Verletzung 
   und politischer Ambition,  darüber, wie sich wundes Gefühl und kalte Berechnung  
   überlagern und vermischen, so dass sie nahezu ununterscheidbar werden und über die 
   brutale Gewalt, die solche Hybride hervorbringen können. 
   Ein Rausch.

Samstag, 28. Juni 2014

Roger Mayne - Eine Strasse in London 1957



St. Stephens Gardens, London W2
1957

 Roger Mayne

Mädchen auf den Stufen
1957

Es war einmal ein arm Kind und hat kei Vater und kein Mutter war Alles tot und war Niemand mehr auf der Welt. Alles tot, und es ist hingangen und hat gerrt Tag und Nacht. Und wie auf der Erd Niemand mehr war, wollt’s in Himmel gehn, und der Mond guckt es so freundlich an und wie’s endlich zum Mond kam, war’s ein Stück faul Holz und da ist es zur Sonn gangen und wie’s zur Sonn kam, war’s ein verwelkt Sonneblum und wie’s zu den Sterne kam, warn’s klei golde Mücke, die warn angesteckt wie der Neuntöter sie auf die Schlehe steckt und wie’s wieder auf die Erd wollt, war die Erd ein umgestürzter Hafen und war ganz allein und da hat sich’s hingesetzt und gerrt und da sitzt’ es noch und ist ganz allein.

Aus: Georg Büchner, Woyzeck, Fragment, 1836/37


 Mädchen auf den Stufen
1957

Nun ging es immerzu, weit weit, bis an der Welt Ende. Da kam es zur Sonne, aber die war zu heiss und fürchterlich, und frass die kleinen Kinder. Eilig lief es weg und lief hin zu dem Mond, aber der war gar zu kalt und auch grausig und bös, und als er das Kind merkte, sprach er: "Ich rieche Menschenfleisch".

Aus: Gebrüder Grimm, Die Sieben Raben


 Schwertkämpfer
1957

Es war einmal ein kleines Mädchen, dem war Vater und Mutter gestorben, und es war so arm, dass es kein Kämmerchen mehr hatte, darin zu wohnen, und kein Bettchen mehr hatte, darin zu schlafen, und endlich gar nichts mehr als die Kleider auf dem Leib und ein Stückchen Brot in der Hand, das ihm ein mitleidiges Herz geschenkt hatte.

Aus: Gebrüder Grimm, Sterntaler

Rauchende Jungs
1956


Mädchen, dass gerade einen Handstand machen will
1957

There was a little girl,
Who had a little curl,
Right in the middle of her forehead.
When she was good,
She was very good indeed,
But when she was bad she was horrid.
 
Henry Wadsworth Longfellow


Alle Photographien © Roger Mayne


Mittwoch, 25. Juni 2014

Schwäbisch Hall, wie es lacht.


Der Tod lächelt uns alle an, 
das Einzige was man machen kann, ist zurücklächeln!
Marc Aurel





Schaufensterpuppen, gesehen in einem Sportgeschäft in Schwäbisch Hall, 
photographiert von mir.


Montag, 23. Juni 2014

Der Heller & Schwäbisch Hall


Mit Pomade bezahlt den Franzosen sein König,
Wir kriegens alle Woche bei Heller und Pfennig.
Kotz Mohren, Blitz und Kreuz-Sackerment,
Wer kriegt so prompt wie der Preuße sein Traktament.

volkstümliche Ballade zw. 1813-1836
Georg Wilhelm Heinrich Häring aka Wilibald Alexis


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DER HALLER HELLER

     Die Gründung der königlichen Münzstätte in Schwäbisch Hall wird dem 
     Stauferkaiser Friedrich I. Barbarossa (1122-1190) zugeschrieben. Seinen 
     Geldbedarf deckte der Kaiser durch die Prägung eigenen Geldes. Dieser 
     "Heller" (= Haller Pfennig), eine kleine Münze aus dünnem Silberblech, 
     erreichte rasch eine weite Verbreitung. Grund hierfür war die schlechtere 
     Qualität, denn aus dem Einschmelzen und Umprägen älterer Münzen ließen 
     sich gute Profite machen.


 
     Die riesige Hellerproduktion brachte Schwäbisch Hall eine wirtschaftliche 
     Hochblüte. Die Bedeutung der Münze für die Stadt zeigt sich darin, dass die 
     Schultheißen schon auf den frühesten Siegeln drei Heller in ihrem Wappen 
     führten, eine Darstellung, aus der sich das heutige Stadtwappen entwickelte.
     Nach 1300 begann der Niedergang des Hellers, der nun auch andernorts 
     geprägt wurde. Es kam zu einer immer rascheren Verschlechterung. Am 
     Ende des 14. Jahrhunderts war die Münze zur kleinsten Einheit innerhalb 
     eines komplizierten Währungssystems herabgesunken. In dieser Zeit endete 
     auch die Prägung von Hellern in Schwäbisch Hall.

     www.schwaebischhall.de

     Der Heller (eigentlich Haller) ist eine frühere deutsche Kupfermünze vom 
     Wert eines halben Pfennigs, benannt nach der Stadt Hall in Schwaben 
     (heute: Schwäbisch Hall),wo etwa ab 1228 silberne Pfennige (Häller 
     Pfennige) geprägt wurden. Die Heller wurden allmählich so verschlechtert, 
     dass sie aufhörten, Silbermünze zu sein. Man unterschied weiße, rote und 
     schwarze Heller; auf den Reichsthaler rechnete man 576 Heller. In 
     Kurhessen wurde der Silbergroschen in 12 Heller eingeteilt, so dass der 
     Heller dem preußischen Pfennig gleich war. Dreiheller waren kupferne 1 
     1/2-Pfennigstücke, die im Sachsen-Gothaischen geprägt wurden.

     Ein Heller entsprach in etwa 1/2 Pfenning und hatte

     um 900 eine Kaufkraft von 5 Hühnern oder etwa 160 g. Getreide.
     Anhand unseres Umrechnungskurses eine Kaufkraft von ca. 15 Euro.

     http://www.mittelalter-server.de 


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AUF HELLER & PFENNIG

    Heller und Pfennig waren über lange Zeit sehr gebräuchliche Münzen von 
    überschaubarem Wert. Wer also etwas auf Heller und Pfennig zurückzahlt, 
    nimmt es wirklich sehr genau und bleibt nicht das Geringste schuldig.
    Dabei war der Heller ursprünglich eine gute, wenn auch kleine Silbermünze, 
    die seit Beginn des 13. Jahrhunderts unters Volk gebracht wurde. Heller hieß 
    das Ding, weil es vor allem in der Reichsmünzstätte (Schwäbisch) Hall 
    geprägt wurde. Gerade im süd- und westdeutschen Raum verdrängte der 
    kleine Heller im Alltag den größeren und schwereren Pfennig, mit dem sich 
    Kleinigkeiten nur schlecht bezahlen ließen. Im Laufe der Zeit verringerten die 
    Münzherren den Silbergehalt dieser Münze zum eigenen Vorteil immer
    weiter, so dass spätestens im unruhigen 17. Jahrhundert (30-jähriger Krieg) 
    der Heller keine Silbermünze mehr war, wie die rötliche Färbung auch 
    unverkennbar verriet.
    Noch älter als der Heller ist der Pfennig, der schon im 8./9. Jahrhundert 
    auftaucht. In den ersten Jahrhunderten seines Daseins war der Pfennig kein 
    Klimpergeld, sondern eine recht wertvolle Münze, die es in vielen 
    verschiedenen regionalen Ausprägungen gab. Der hohe Wert des Pfennigs 
    war im Alltag aber ein Problem. Wie etwas mit einem Pfennig bezahlen, das 
    nur einen drittel Pfennig wert war? Daher kamen bald kleinere Münzen mit 
    steigendem Kupferanteil wie der Heller auf. Aber auch vor dem Pfennig 
    machte die Münzverschlechterung nicht halt. Ähnlich dem Heller war er 
    Ende des 17. Jahrhunderts zur vergleichsweise wertlosen Kupfermünze
    verkommen.
    Immerhin hat sich der Pfennig im deutschsprachigen Raum länger gehalten 
    als der Heller. Während die Münzreform von 1873 den Heller aus dem 
    Deutschen Reich verbannte, war er in Österreich-Ungarn immerhin noch bis 
    1925 im Umlauf.

   
     www.redensarten.net 

    http://www.spiegel.de/spiegel/spiegelgeschichte/d-66214345.html
 
 

Sonntag, 22. Juni 2014

HAMLET 2 - Willst du Krokodile essen?



Wieder ein Widerhaken.

Der dänische Prinz Hamlet erfährt von einem Geist, einer "Gestalt", einem "Ding" seinem toten Vater ähnelnd, dass sein Onkel, nun sein Stiefvater, seinen Vater getötet haben soll. 

Was tut er daraufhin?

Er gibt vor verrückt zu sein, ironisiert sich bösartig durch einige Dialoge mit Polonius und dem verdächtigten König-Onkel, gibt altklug vorlauten Laien-Schauspielunterricht, aber neidet den nur ihre Arbeit tuenden Schauspielern, die Glaubhaftigkeit ihrer gespielten Emotionen und beklagt den eigenen Mangel an tiefen, echten Gefühlen, für die er doch eigentlich Anlass genug hätte. 
HAMLET.
Was ist ihm Hekuba, was ist er ihr,
Dass er so weint um sie? Was würd' er tun,
Hätt' er den Grund und Ruf zur Leidenschaft
Wie ich?

Er macht Ophelia, seine Ferien-in-Helsingör-Liebe, fertig, weil sie nicht ehrlich genug ist, und verlangt von ihr lebenslange Abstinenz, dasselbe verlangt er später von seiner Mutter, nunmehr Ehefrau des Vaterbruders.
Er schreibt ein Theaterstück und nutzt die Reaktionen der Zuschauer als Beweise ihrer Missetaten. Kurze Zeit später ersticht er den Lauscher Polonius, der nichts mit dem vermuteten Mord an seinem Vater zu tun hat, und kann auf die Frage "Was hast du getan?" nur mit "Ich weiß es nicht!" antworten.
Zwischenspiel: Abfahrt nach England, Rosenkranz & Güldenstern, die ihn umbringen sollen, werden von ihm in den Tod geschickt, es folgt die Rückkehr nach Dänemark.
Und------und------und------Ophelia, seine kleine Liebe und Tochter des abgestochenen Polonius, hat sich umgebracht, ertränkt.
Ihr Bruder, nunmehr Waise und schwesternlos trauert an ihrem Grab. Und hier kommt es zu einer der merkwürdigsten Szenen, des an Irritationen reichen Stückes:

HAMLET ins Grab springend.

             Wer ist der, dessen Schmerz
So hohen Tons erklingt? – Dies bin ich,
Hamlet der Däne.
LAERTES.
                  Hol' der Teufel dich!
HAMLET.
Ich bitte, lass die Hand von meiner Kehle!
Denn wenn ich auch nicht jäh und heftig bin,
Hab' ich doch was Gefährliches in mir.
KÖNIG.
Werft Euch dazwischen!
KÖNIGIN.
                        Hamlet! Hamlet!
HAMLET.
                                       Ich liebte
Ophelia; vierzigtausend Brüder hätten
Mit ihrer ganzen Liebe  doch die Summe
Der meinen nicht erreicht. Was willst du tun
Für sie?
KÖNIG.
        O, er ist toll, Laertes.
KÖNIGIN.
                  Um Gottes willen, schont ihn!
HAMLET.

Zum Henker, zeig' mir, was du für sie tun willst:
Willst weinen? Fechten? Fasten? Dich zerreißen?
Willst Wolfsmilch trinken? Krokodile essen?
Ich tu es. – Kommst du um zu winseln her?
Durch eine Sprung ins Grab mich zu verblüffen?
Lass dich mit ihr begraben, ich tu's auch.
Ich prahl' so gut wie du.

Was ist das? 
Er wirft dem trauernden Bruder die Tiefe seiner Verzweiflung vor, spricht ihm das Recht daran ab, nimmt es für sich in Anspruch. Aber er klingt unwahr. "Ich prahl' so gut wie du."
Der Kerl macht mich irre, kirre. Er ist nicht zu fassen, auch weil er selbst nicht weiß, was er fühlt, fühlen soll. 

Ich lese über politische Ungeheuerlichkeiten in Zeitungen, im Internet, ich höre unfaßbare Nachrichten im Fernsehen und im Radio und suche in mir nach der entsprechenden Reaktion. Fünfzehn Spendenaufrufe liegen im Email-Ordner, zehn Bettler auf hundert Meter Fußweg bitten um Hilfe, die Obdachlosenzeitung der jeweiligen Stadt wird mir angeboten und ich suche in mir nach dem notwendigen, anständigen Mitgefühl, bemerke, dass ich Ausreden finde, mich distanziere.

Ich will kein Arschloch sein, aber die Gefährdung ist da, jeden Tag.



Godot schreibt, 
"Verspäte mich, Smiley mit Stirnrunzeln , Smiley mit Zwinkerauge ."

Donnerstag, 19. Juni 2014

Ups! - Überraschungsgast



Kennt ihr das? Alles ist gut, keinerlei weltbewegende Konflikte. Und plötzlich schaut die völlige Verlassenheit mir für einen Moment kalt und fragend ins Auge. Uneingeladen. Dauert vielleicht nur Minuten. Ich bleibe tief erschrocken und außer Fassung zurück. Es geht vorbei. 

Frühling
Fresko in Stabiae 1. Jahrhundert nach Christus
 

Die Verlassene

An K.J.

Du irrst dich. Glaubst du, daß du fern bist
Und daß ich dürste und dich nicht mehr finden kann?
Ich fasse dich mit meinen Augen an,
Mit diesen Augen, deren jedes finster und ein Stern ist.


Ich zieh dich unter dieses Lid
Und schließ es zu und du bist ganz darinnen.
Wie willst du gehn aus meinen Sinnen,
Dem Jägergarn, dem nie ein Wild entflieht?


Du läßt mich nicht aus deiner Hand mehr fallen
Wie einen welken Strauß,
Der auf die Straße niederweht, vorm Haus
Zertreten und bestäubt von allen.


Ich hab dich liebgehabt. So lieb.
Ich habe so geweint ... mit heißen Bitten ...
Und liebe dich noch mehr, weil ich um dich gelitten,
Als deine Feder keinen Brief, mir keinen Brief mehr schrieb.


Ich nannte Freund und Herr und Leuchtturmwächter
Auf schmalem Inselstrich,
Den Gärtner meines Früchtegartens dich,
Und waren tausend weiser, keiner war gerechter.


Ich spürte kaum, daß mir der Hafen brach,
Der meine Jugend hielt - und kleine Sonnen,
Daß sie vertropft, in Sand verronnen.
Ich stand und sah dir nach.


Dein Durchgang blieb in meinen Tagen,
Wie Wohlgeruch in einem Kleide hängt,
Den es nicht kennt, nicht rechnet, nur empfängt,
Um immer ihn zu tragen.

 
Gertrud Kolmar

aus: “Gedichte”
Lizenzausgabe Suhrkamp Verlag 1996
© Kösel-Verlag, München 1980