Montag, 8. Dezember 2014

DIE SCHWIERIGKEITEN MIT DER VOLKSKUNST


DIE SCHWIERIGKEITEN MIT DER VOLKSKUNST
 
Zwischem Blauen Bock und Blaudruck, den Wildecker Herzbuben und "Kommt ein Vogel geflogen", zwischen zart bemalten Bauernmöbeln und Sticken nach Zahlen, zwischen dem Gutenachtlied fürs unruhige Kind und Helene Fischer, zwischen Flohmarktglücksfund und retrogestaltetem Korkenzieher, irgendwo dazwischen liegt die Volkskunst, die aus der Tradition, dem Handwerk, der tiefen Sehnsucht nach Schönheit geschaffen wird. Dem Praktischen wird überflüssigerweise und doch notwendig Ornament, Dekor, Zierrat zugesetzt. Dann liegt der schmale Grat der Unterscheidung zwischen Handwerk und Kunst oft nur in der ängstlichen, geschmäcklerischen oder gar elitären Definition des verunsicherten Betrachters.


Singen ist gesund, „Atemlos“ macht malad

Interview mit Erich Schmeckenbecher
Warum können Sie „Atemlos“ nicht einfach als modernes Volkslied sehen?

Weil es keine Wurzeln, keine gewachsene Geschichte hat. Es ist nur eine pragmatische, künstliche Marktware, wie so vieles heutzutage. Der Profit steht im Vordergrund. Dagegen stehen Volkslieder mit ihren romantischen Traditionen, die neben den rein ästhetischen Werten immer auch eine historische Komponente aufweisen. Sie wollen aufwecken, nicht ablenken. Sie stehen in einem geschichtlich wie sozialen Zusammenhang. Popschlager tun das nicht. Die sind nur gefühlig, oft kitschig.
 
http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.interview-mit-volksliedexperte-zu-helene-fischer-singen-ist-gesund-atemlos-macht-malad.77ceff2f-8afb-440c-bcc3-7bb4a00e1c68.html

Und das wirklich durchdachte Praktische, Nützliche hat immer eine ihm immanente Schönheit. Man schaue sich nur die Möbel der nordamerikanischen Shakergemeinschaften an. Nicht ein Kringel zu viel und jedes Detail ist notwendig zum besten Gebrauch.

 
Die Volkskunst, z. T. auch Heimatkunst genannt, bezeichnet das bildnerische und kreative Schaffen jenseits der klassischen bzw. modernen Künste, meist eingebunden in traditionelle handwerkliche oder häusliche Produktion, sagt Wiki.

Im Zeitalter der Aufklärung bezeichnete das Adjektiv volkstümlich meist die Kulturleistungen ungebildeter Deutscher sowie das Populäre. Die „Volksdichtung“ wurde damit von „gehobener“ Literatur, von der Kultur der Gebildeten unterschieden und teils elitär abgewertet, teils idealisiert, sagt Wiki auch.

„Das Volk ist nicht tümlich.“ Bertolt Brecht
  
Das Volk, das die Dichter, einige davon, als seine Sprachwerkzeuge benutzt, verlangt, daß ihm aufs Maul geschaut wird, aber nicht, daß ihm nach dem Maul gesprochen wird. ...Dem Volk aufs Maul schauen ist etwas ganz anderes als dem Volk nach dem Mund reden.
Der Begriff volkstümlich selber nicht allzu volkstümlich und eine ganze Reihe von Tümlichkeiten müssen mit Vorsicht betrachtet werden.

Aus Volkstümlichkeit und Realismus

Wenn wir vor den Unteren bestehen wollen
Dürfen wir freilich nicht volkstümlich schreiben.
Das Volk 
Ist nicht tümlich

Aus Da das Instrument verstimmt ist
Beide Texte: Bertolt Brecht 1938

Und dann gibt es die Überschneidungen, von "Künstlern" geschaffene Werke, die ihre Erschaffer hinter sich lassen, ihn vergessen lassen und in den großen Bauch des Volkes aufgenommen werden. Robert Wolfgang Schnell schrieb dazu folgende wundervolle Petitesse:

Volkskunst

Mein Freund Kurt, dessen Augen durch seine starken Brillengläser immer
scharf, brennend und etwas teuflich aussehen, sagte: "Du weißt nicht,
was Kunst ist? Dann will ich dir ein Gedicht von mir vortragen. Höre:

         Über allen Gipfeln
         Ist Ruh,
         In allen Wipfeln
         Spürest du
         Kaum einen Hauch,
         Die Vögelein schweigen im Walde,
         Warte nur, balde
         Ruhest du auch."

Ich war zuerst stumm. Dann böse. Dann lachte ich. Dann war ich entrüstet. "Gestern", sprach er ruhig weiter, "stand ich an meinem Fenster in
der Nacht. Die Stadt lag unter mir, und ich erblickte die vollkommene
Ruhe. Es war windstill, und die Kinder atmeten in ihren Betten. Da wuchs
mir dieses Gedicht entgegen, an welches ich jahrelang nicht mehr gedacht
hatte. Jetzt ist es von mir, obwohl es früher einmal Goethe geschrieben
hat." Kurt wohnt auf der Höhe. Spät abends ging ich ins Tal hinunter nach
Hause über den baumbewachsenen Abhang. Durch meinen Kopf ging: "Über
allen Gipfeln..." So bekannt. Als ob ich es selbst geschrieben hätte.


MUZES FLÖTE Luchterhand 1966
S.137


3 Kommentare:

  1. Or should it be: "The people are not populistic"?

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  2. "Atemlos" ist auch Thema in dieser Berliner Inszenierung an der Volksbühne von Marthaler:
    http://www.volksbuehne-berlin.de/praxis/tessa_blomstedt_gibt_nicht_auf/

    Ziemlich klamaukig für mich, nur ein alter populärer Uhrwurm von Udo Jürgens hat sich mir eingeprägt:
    "Ich wünsch Dir Liebe ohne Leiden, und eine Hand, die Deine hält.
    Ich wünsch Dir Liebe ohne Leiden und dass Dir nie die Hoffnung fehlt..."
    (Lustig-anrührend dazu das Video von ihm mit seiner Tochter, im Netz zu finden.)

    Aber am schönsten klingt doch der Purcell !

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