Mittwoch, 18. März 2015

Theater ist manchmal vollends neben der Kappe und da genau richtig


Letzte Woche, die Dritte Vorstellung von "Mahagonny" am Volkstheater Rostock steht bevor, Susanne, die weltbeste Regieassistentin, ruft an, um mir mitzuteilen, dass drei Chortenöre erkrankt sind und die Einspringer aus Berlin zu spät eintreffen werden, um sie gründlich einzuweisen. Dann verändert sich ihre Stimmlage ins Kicherige und sie teilt mit, dass sie, um Chaos zu vermeiden, drei Blindenarmbinden bei der Requisite bestellt hat und einen Strick, an den die drei "blinden" Bewohner Mahagonnys angebunden werden sollen, um von einem der verbliebenen "geprobten" Sänger an diesem Strick durch den Abend und in ihre Arrangements geschleift zu werden.  

Hat geklappt, die ausverkaufte Vorstellung mußte nicht abgesagt werden.

Vor gefühlten zweihundert Jahren sitze ich allein in der Kantine des Kleist-Theaters in Frankfurt/Oder, im Foyer läuft "In Sachen Adam & Eva" von Rudi Strahl, das panische Gesicht des Abendienstes erscheint in der Tür, und seine weitaufgerissenen Augen saugen sich an mir fest. Die Darstellerin der Hela, Freundin der Stücktitel-Eva ist nicht erschienen, die Vorstellung läuft schon, ich bekomme ein Textbuch in die Hand gedrückt, ich kenne weder Stück noch Inszenierung, finde mich auf der Bühne wieder und werde eine Stunde lang von Kollegen erbarmungslos und doch liebevoll hin und her geschoben, derweil ich alle Sätze sage vor denen der Name Hela steht.

Leipzig, einige Jahre später. Ich, nunmehr probenfreier Regisseur, wieder in der Kantine. An diesem Abend gibt es "Die Stunde da wir nichts voneinander wussten" von Peter Handke. Ein stummer beredter Abend an dem sämtliche Spieler des Ensembles beteiligt sind, jeder spielt circa zehn stumme Rollen, nur leider ist eine Darstellerin plötzlich erkrankt. Kantinenauftritt Intendant/Regisseur Wolfgang Engel - ich bekomme einen Zettel mit kurzen Regieanweisungen in die Hand gedrückt, etwa 15 Auftritte in unterschiedlichsten Kostümen. Der einzige konstante Ort zur Unterbringung des Zettels ist meine Unterhose, alles andere ändert sich durch die Umzüge ständig. Leider schwitze ich vor Angst so stark, dass das Geschriebene nach 10 Minuten völlig unleserlich geworden ist. Ich reagiere von nun an widerspruchslos auf verbale Anweisungen. 
Die Frau im roten Kleid, Regieanweisung: "Du bist schön" und "du gehst langsam und verführerisch von rechts nach links" (Von der Bühne aus gesehen!) "an der Rampe entlang". Ich tue, was mir gesagt wird. Untertext: "Ich bin schön." Drei Schritte, sechs, plötzlich ahne ich im Augenwinkel eine Person, die sich von der gegenüberliegenden Seite auf mich zubewegt (Ich bin stark kurzsichtig!), sie rennt, sie ist nackt, sie ist mein Regieassistent! Was wird geschehen? Ich habe keine Ahnung! Er rennt vorbei, ich schreite weiter majestätisch die Rampe entlang. Untertext: "Ich bin schön.

Das Bühnenbild verweigert sich, die Drehbühne klemmt, alle Spieler wandern mit ihren Requisiten nach vorne und können sich von nun an auf nix verlassen, als auf einander.
Kunstvoll befestigte Haarteile entwickeln ein Eigenleben und fliegen bei heftigen Bewegungen in zutiefst tragischen Szenen, wie aufgeschreckte Vögel, über die Bühne.
Der für den Abend eingeteilte Feuerwehrmann nickt ein und fällt mitten in einer scharfen politischen Auseinandersetzung von seinem Stuhl auf die Bühne.
Der Hauptdarsteller eines seit einer Ewigkeit laufenden Stückes weiß eines Abends seinen schon dreihundertmal gesprochenen Text nicht und geht ab, nachdem er dem Publikum mitgeteilt hat, dass ihm den "Rest" der Kollege xxx mitteilen würde. Der Kollege xxx tut sein Bestes.
Onkel Wanja klagt mir, in diesem Fall, Jelena, sein Leid. Ich, erst kürzlich eingesprungen, kann mich ums Verrecken nicht an seinen Namen erinnern. Da ich im Stück nicht mit ihm verwandt bin, kann ich ihn ja schlecht als Onkel ansprechen. Ich spiele mich unauffällig in seine Nähe, frage flüsternd: " Wie heißt du?". Mein Kollege schaut mich tief verletzt an und nennt seinen echten Namen.
Hosen verlieren Knöpfe und fallen vom Körper, angeklebte Bärte entwickeln ein dynamisches Eigenleben, Gebisse verlassen ihren ihnen ursprünglich zugewiesenen Ort, Scheinwerfer gehen im falschen Moment an oder aus oder fallen laut scheppernd herunter. 
Souffleusen haben das falsche Textbuch, der Inspizient ist betrunken, ein Kollege hat gerade seine Frau verlassen.
Eine Grippewelle ereilt in kurzen Abständen die drei weiblichen Mitspielerinnen des "Diener zweier Herren" und jedesmal erwischt mich die Übernahme. Beim letzten mal weiß der Darsteller des Truffaldino nicht einmal mehr, wer genau ich an diesem Abend bin. Da hat er mich halt gefragt.

Nichts ist schöner, als wenn auf der Bühne völlige Panik herrscht. Dann kommen wir zum Eigentlichen, zum ums Leben spielen. 

4 Kommentare:

  1. ... und ich sah Frau Schall erstmals beim Einspringen mit Textbuch für "Diener zweier Herren" am DT, bestens eingeführt beim Publikum und danach oft auch ge-führt vom damaligen Intendanten Dieter Mann ... einer der wirksamsten Späße des Abends: Wie klaue ich der Dame das Textbuch ...

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  2. Post von Michael Laages.

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  3. Die Geschichte ist wunderbar ! Erinnere mich, Wolfgang Engel hat mal fast eine ganze Probe "Wie es Euch gefällt" ( in München ) mit solchen Anekdoten aus "früheren Zeiten" verbracht ..

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  4. Danke! Tränen gelacht und grandiose Szenne vor dem inneren Auge gehabt. Oh danke!

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