Freitag, 19. August 2016

Worüber Heinrich von Kleist womöglich kicherte

Offiziell heißen die kurzen Texte Anekdoten, und wurden zwischen dem  
1. Oktober 1810 und dem 30. März 1811 in den Berliner Abendblättern, die Kleist gemeinsam mit Julius Eduard Hitzig herausbrachte, veröffentlicht. Ich würde sie erzählte böse Witze nennen, obwohl Kleist manchmal merkwürdigerweise gegen Ende noch erklärt, was daran witzig ist.

Marianne Schuler allerdings definiert das Wort Anekdote so, dass die Bezeichnung gänzlich Sinn macht.
Es ist als hätte Kleist das griechische Wort an–ekdota beim Wort genommen, das übersetzt »nicht Herausgegebenes« heißt. Als Bezeichnung für eine Textgattung ist der Terminus »Anekdote« 550 n. Chr. von dem griechischen Geschichtsschreiber Procopius eingesetzt worden: Unter dem Titel »Anekdota« hat Procopius Aufzeichnungen über den (schlechten) Charakter und das (lasterhafte) Leben des Kaisers Justitian und der Kaiserin Theodora versammelt, die nicht an die Öffentlichkeit gelangen sollten. Die Anekdote bildet danach eine Art Fußnotentext zur offiziellen Geschichtsschreibung. Als Herausgeber einer Tageszeitung gibt Kleist hingegen eine Anekdote heraus, die keineswegs vorenthält, was andern, geheimen, sozusagen polizeilichen Orts aufgezeichnet und gewußt wäre. Vielmehr schreibt Kleist diesen heimlich–unheimlichen Ort als Ab–Grund des Schreibens seiner Anekdote selbst ein. Wie der Anekdote Kleists dieser der Darstellung und dem Wissen unzugängliche Ort eingeschrieben ist, so erscheint die Anekdote innerhalb der Tageszeitung vielleicht als jene wolkige Stelle, die dem feststellenden Polizeibericht wie dem Bericht über die Tagesbegebenheiten ins Wort fällt.

Tagesbegebenheit

Dem Kapitän v. Bürger, vom ehemaligen Regiment Tauentzien, sagte der, auf der neuen Promenade erschlagene Arbeitsmann Brietz: der Baum, unter dem sie beide ständen, wäre auch wohl zu klein für zwei, und er könnte sich wohl unter einen andern stellen. Der Kapitän Bürger, der ein stiller und bescheidener Mann ist, stellte sich wirklich unter einen andern: worauf der &c. Brietz unmittelbar darauf vom Blitz getroffen und getötet ward.


Dieselbe Begebenheit, gänzlich anders beschrieben in der Vossischen Zeitung vom 2. Oktober:

Am 29sten Septbr., Nachmittags um 3 1/2 Uhr, ließ sich bei einem starken Gewitterregen unvermutheth ein einziger starker Donnerschlag über die Stadt hören. Dreißig Schritt von einem Hause, das mit einem Blitzableiter versehen ist, schlug der Wetterstrahl in eine Pappel auf der neuen Promenade, die nach dem Haakschen Markte führt, streifte auf einer Seite des Baumes die Rinde von der Krone bis 3 Fuß von der Erde glatt ab, und erschlug einen Mann, der sie umklammert hielt. Der Unglückliche starb auf der Stelle und hinterläßt eine Witwe und 3 Waisen.
 


Ansicht des Hackischen Marktes mit Blick zu Marienkirche 1780


Mutterliebe

Zu St. Omer im nördlichen Frankreich ereignete sich im Jahr 1803 ein merkwürdiger Vorfall. Daselbst fiel ein er toller Hund, der schon mehrere Menschen beschädigt hatte, über zwei, unter einer Haustür spielende, Kinder her. Eben zerreißt er das jüngste, das sich, unter seinen Klauen, im Blute wälzt; da erscheint, aus einer Nebenstraße, mit einem Eimer Wasser, den sie auf dem Kopf trägt, die Mutter. Diese, während der Hund die Kinder losläßt, und auf sie zuspringt, setzt den Eimer neben sich nieder; und außerstand zu fliehen, entschlossen, das Untier mindestens mit sich zu verderben, umklammert sie, mit Gliedern, gestählt von Wut und Rache, den Hund: sie erdrosselt ihn, und fällt, von grimmigen Bissen zerfleischt, ohnmächtig neben ihm nieder. Die Frau begrub noch ihre Kinder und ward, in wenig Tagen, da sie an der Tollwut starb, selbst zu ihnen ins Grab gelegt.


Charité-Vorfall

Der von einem Kutscher kürzlich übergefahrne Mann, namens Beyer, hat bereits dreimal in seinem Leben ein ähnliches Schicksal gehabt; dergestalt, daß bei der Untersuchung, die der Geheimerat Herr K., in der Charité mit ihm vornahm, die lächerlichsten Mißverständnisse vorfielen. Der Geheimerat, der zuvörderst seine beiden Beine, welche krumm und schief und mit Blut bedeckt waren, bemerkte, fragte ihn: ob er an diesen Gliedern verletzt wäre? worauf der Mann jedoch erwiderte: nein! die Beine wären ihm schon vor fünf Jahr, durch einen andern Doktor, abgefahren worden. Hierauf bemerkte ein Arzt, der dem Geheimenrat zur Seite stand, daß sein linkes Auge geplatzt war; als man ihn jedoch fragte: ob ihn das Rad hier getroffen hätte? antwortete er: nein! das Auge hätte ihm ein Doktor bereits vor vierzehn Jahren ausgefahren. Endlich, zum Erstaunen aller Anwesenden, fand sich, daß ihm die linke Rippenhälfte, in jämmerlicher Verstümmelung, ganz auf den Rücken gedreht war; als aber der Geheimerat ihn fragte: ob ihn des Doktors Wagen hier beschädigt hätte? antwortete er: nein! die Rippen wären ihm schon vor sieben Jahren durch einen Doktorwagen zusammen gefahren worden. – Bis sich endlich zeigte, daß ihm durch die letztere Überfahrt der linke Ohrknorpel ins Gehörorgan hineingefahren war. – Der Berichterstatter hat den Mann selbst über diesen Vorfall vernommen, und selbst die Todkranken, die in dem Saale auf den Betten herumlagen, mußten, über die spaßhafte und indolente Weise, wie er dies vorbrachte, lachen. – Übrigens bessert er sich; und falls er sich vor den Doktoren, wenn er auf der Straße geht, in acht nimmt, kann er noch lange leben.


Anekdote


Zwei berühmte englische Boxer, der eine aus Portsmouth gebürtig, der andere aus Plymouth, die seit vielen Jahren von einander gehört hatten, ohne sich zu sehen, beschlossen, da sie in London zusammentrafen, zur Entscheidung der Frage, wem von ihnen der Siegerruhm gebühre, einen öffentlichen Wettkampf zu halten. Demnach stellten sich beide, im Angesicht des Volks, mit geballten Fäusten, im Garten einer Kneipe, gegeneinander; und als der Plymouther den Portsmouther, in wenig Augenblicken, dergestalt auf die Brust traf, daß er Blut spie, rief dieser, indem er sich den Mund abwischte: brav! – Als aber bald darauf, da sie sich wieder gestellt hatten, der Portsmouther den Plymouther, mit der Faust der geballten Rechten, dergestalt auf den Leib traf, daß dieser, indem er die Augen verkehrte, umfiel, rief der letztere: das ist auch nicht übel –! Worauf das Volk, das im Kreise herumstand, laut aufjauchzte, und, während der Plymouther, der an den Gedärmen verletzt worden war, tot weggetragen ward, dem Portsmouther den Siegsruhm zuerkannte. – Der Portsmouther soll aber auch Tags darauf am Blutsturz gestorben sein.

Boxer
Britisch, 18. Jahrhundert
ART BY CHARLES REUBEN RYLEY / ENGRAVED BY J. GROZER



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