Mittwoch, 6. September 2017

Eine wirklich gute Probe

Gestern hatte ich mir gewünscht, ich wäre Tischler geworden, 
oder würde gerade Urlaub in Polen machen, oder könnte mich in Luft auflösen, mich verkriechen, kurzzeitig versterben oder wenigstens nur icognito anwesend sein. Dass, was wir seit Wochen probieren, verwandelte sich vor meinen Augen in mageren Quark, trübe Suppe, zähen Brei. Meine besten Freundinnen waren da, zur Premiere haben sie keine Zeit, und zur Pause blickte ich in ihre liebevollen verzweifelten Gesichter, bemüht um Aufmunterung und unfähig welche zu geben. Ich murmelte meine verzweifelte Mantra von "Es tut mir leid!", "Es tut mir leid!", "Es tut mir leid!", habe gelitten, wie ein Schwein und meinen Mitarbeitern diese Erfahrung auch unmißverständlich mitgeteilt. Sie haben es mit Würde entgegengenommen.

Bertolt Brecht
Nanas Lied

Gottseidank geht alles schnell vorüber
Auch die Liebe und der Kummer sogar.
Wo sind die Tränen von gestern abend?
Wo ist der Schnee vom vergangenen Jahr?


Heute ist alles anders. Meine hartarbeitenden Spieler sind durch unser gräßliches gestrige Tal der Tränen gegangen und klar, konzentriert und wild daraus aufgetaucht, um heute einen wunderbaren Durchlauf hinzulegen. Wie machen die das? Ich war selber Spieler, da konnte ich das auch. Heute erlebe ich es wie ein Geschenk.

Francois Villon
Ballade der Frauen von einst

Sagt mir, in welchem Land
ist Flora, die schöne Römerin,
Alkibiades und Thaïs,
seine Kusine,
Echo, die spricht, wenn man Lärm macht
auf dem Fluss oder dem Teich,
und die von übermenschlicher Schönheit war? 
Wo ist der Schnee vom vergangenen Jahr?
 
Wo ist die äußerst weise Heloïse,
für die entmannt und später Mönch ward
Petrus Abaelardus in Saint Denis?
Für seine Liebe litt er solche Pein.
Wo ist gleichermaßen die Königin,
die befahl, dass Buridan
in einem Sack in die Seine geworfen wurde?  
Und wo ist der Schnee vom vergangenen Jahr?

Die Königin Lilienweiß,
die mit Sirenenstimme sang,
Bertha vom großen Fuß, Béatrix, Aélis,
Eremberg, die das Maine besaß,
und Jeanne, die gute Lothringerin,
die die Engländer in Rouen verbrannten.
wo sind sie, wo, hehre Jungfrau?
Doch wo ist der Schnee vom vergangenen Jahr?

Prinz, frage nicht in einer Woche,
wo sie sind, nicht dieses Jahr!
Uns bleibt nur dieser eine Reim:
Wo ist der Schnee vom vergangenen Jahr?
 

2 Kommentare:

  1. Frau Lipke - herrlich kurze und wunderbar treffende Erklärung. :)

    Ich werde mit etwas mehr Worten um mich werfen müssen, aber letztlich laufen sie auch auf eine Herzangelegenheit hinaus.

    Mein inneres Verhältnis zu Rollen ist ähnlich wie in einer Beziehung. Und wir wissen alle - in manchen Beziehungen fügt sich alles magisch zueinander... in anderen muss man, trotz Zuneigung, höllisch kämpfen und viele sind irgendwie gesund dazwischen untergebracht.

    Wie in den meisten Beziehungsschieflagen merken Schauspieler früh, wenn etwas nicht optimal läuft. Wie in den meisten Beziehungen heisst das nicht unbedingt, dass man sofort etwas dagegen unternimmt oder auch nur im entferntesten weiß, was dagegen zu unternehmen wäre.
    Man merkt "Hm, das stimmt alles nicht so ganz." aber man schaut erstmal wie's sich entwickelt und ob sich aus der Entwicklung, dem großen Bogen, hilfreiches ergibt.
    Manchmal ist das nicht der Fall ... und man beginnt so einiges zu versuchen. Ähnlich wie in einer Beziehung, wenn der eine (in diesem Fall die Rolle) sagt "Geht doch!" und der andere sagt "Nee, geht nicht!". Der Schauspieler dreht an Nuancen, versucht, macht sich 'nen Kopf, wirbt um Verbesserung. Oft bewegt das schon einiges und öffnet neue Wege mit neuem Futter.
    Das ist, als ob man in Beziehungen Energie investiert... schön zusammen isst, ins Kino geht, gute Gespräche führt und die gemeinsame Basis genußvoll ideenreich vergrößert.
    Manche Rollenbeziehungen sind aber störrischer und lassen sich auf die romantisch liebevolle Art nicht knacken.
    Dann ist es an der Zeit für Beziehungsknatsch, wo etwas ins Spiel kommt das man Wut nennt.
    Oft ist dann der Hochzeitstermin (Premiere) bereits deutlich näher gerückt und man hat Grund zu sagen "Paß' mal auf, an dem Tag sollte ich zu dir JA sagen können und wenn ich das nicht kann, dann wird das hier sowas von crashen. Ja, Schatz, ich verstehe, dass du dich in dieser Komfortzone echt wohl fühlst, aber es funktioniert nicht, also nehm' ich Dich da jetzt einfach 'raus. Und komm' mir nicht immer mit deinen Bedenken dort- und darüber, hier wird jetzt nicht mehr gedacht, jetzt wird hier gemacht. Jetzt ist hier fröhliches 'reinschmeißen angesagt ohne Diplomatie und Deckung, denn eins kann ich Dir sagen, Freundchen, wir werden am Premierentag keine Vernunftsehe beginnen.".
    Solche Beziehungskräche enden oft in erstaunlicher Leidenschaft und Beziehungsdynamik. Und in gelungenen Hochzeiten.
    Denn Vernunftsehen auf der Bühne fühlen sich 12mal, 16mal, 20mal, 30 mal über Monate hinweg richtig fies an... da machen Rollen dann keinen Unterschied zum menschlichen Partner.
    Und jeder Schauspieler, der bei Trost ist, hat den höchst egoistischen hedonistischen Impuls sie zu vermeiden.
    Solche inneren Beziehungskräche mit Rollen haben für mich schon oft den Unterschied gemacht zwischen einer echten Krisenbeziehung hin zu einer großen Liebesbeziehung, die ich am Dernierentag nur schweren Herzens beenden konnte und gerne noch viel länger geführt hätte.
    Und vielleicht ist sowas gerade, ziemlich kollektiv, auf Eurer Bühne passiert.

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